Gemeinschaftsdiagnose der Wirtschaftsforschungsinstitute zur Lage der Weltwirtschaft und der deutschen Wirtschaft im Frühjahr 2006
Gemeinschaftsdiagnose der Wirtschaftsforschungsinstitute zur Lage der Weltwirtschaft und der deutschen Wirtschaft im Frühjahr 2006
Die Expansion der Weltwirtschaft ist im Frühjahr 2006 nach wie vor kräftig. Im Verlauf des vergangenen Jahres hat sie an Breite gewonnen. Während die Produktion in den USA in der Grundtendenz weiter deutlich stieg und sich das rasche Wachstum in China ungebremst fortsetzte, wurde die Schwächephase, die sich in Japan, im Euroraum sowie in vielen Schwellenländern in der zweiten Jahreshälfte 2004 eingestellt hatte, nach und nach überwunden. Die Auftriebskräfte sind in Folge der günstigen Ertragslage der Unternehmen, steigender Vermögenspreise und niedriger Zinsen so stark, dass die dämpfenden Wirkungen höherer Rohstoffpreise mehr als ausgeglichen wurden. Der Preisanstieg hat sich in den Industrieländern energiepreisbedingt im vergangenen Herbst vorübergehend verstärkt. Zu spürbaren Zweitrundeneffekten kam es aber nicht. Nach wie vor geringe Inflationserwartungen sind ein wichtiger Grund dafür, dass die langfristigen Zinsen nur wenig stiegen.
Die Weltwirtschaft wird im Prognosezeitraum weiter zügig expandieren, wenngleich infolge nachlassender expansiver Wirkungen der Geldpolitik und leicht anziehender langfristiger Zinsen etwas langsamer als bisher. Dabei wird sich das Konjunkturgefälle zwischen den Industrieländern weiter verringern. Das reale Bruttoinlandsprodukt in der Welt wird 2006 um 3,4 % und 2007 um 3,1 % zunehmen. Der Welthandel dürfte um 8,5 bzw. 7,5 % ausgeweitet werden. Die globalen Ungleichgewichte, insbesondere das Leistungsbilanzdefizit der USA, werden sich dabei kaum verringern.
Im Euroraum setzt sich die konjunkturelle Erholung fort. Die konjunkturellen Auftriebskräfte unterscheiden sich dabei in den einzelnen Volkswirtschaften weiterhin deutlich. In Deutschland, Österreich und den Niederlanden wird die Konjunktur vor allem von den Exporten getragen, in Spanien, Italien und Frankreich steigt vor allem die Binnennachfrage. Mit der Erholung haben sich die Inflationsrisiken erhöht. Die EZB, die im vergangenen Jahr die Zinswende vollzog, wird daher bestrebt sein, den Expansionsgrad ihrer Geldpolitik weiter zu verringern. Zugleich kommt die Budgetkonsolidierung allmählich voran. Export und Anlageinvestitionen werden aber weiter deutlich expandieren. Im kommenden Jahr wird die konjunkturelle Dynamik durch die etwas langsamere Gangart der Weltkonjunktur, leicht steigende Zinsen und einen nachlassenden Immobilienpreisanstieg, aber auch durch die restriktive Finanzpolitik in Deutschland, gedämpft. Im Jahresergebnis nimmt das reale Bruttoinlandsprodukt 2007 um 1,8 % zu, nach 2,1 % in diesem Jahr. Die Inflationsrate wird 2006 aufgrund eines geringeren Anstiegs der Energiepreise auf 2 % sinken; 2007 wird sie infolge der Anhebung der Mehrwertsteuer in Deutschland etwas höher ausfallen (2,2 %).
deutsche Wirtschaft 2006 im Aufschwung
Die deutsche Wirtschaft befindet sich im Frühjahr 2006 in einem kräftigen Aufschwung. Nach wie vor sind die Impulse aus dem Ausland beträchtlich, die Exporte sind bis zuletzt stark gestiegen. Die positive Grundtendenz der Konjunktur zeigt sich vor allem darin, dass sich die Ausrüstungsinvestitionen weiter gefestigt haben. Auch die Verbraucher sind optimistischer geworden; die Umsätze des Einzelhandels zogen nach der Jahreswende etwas an. Der konjunkturelle Aufschwung strahlt auf den Arbeitsmarkt aus. So ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der zweiten Jahreshälfte 2005 kaum noch zurückgegangen, und die Arbeitslosigkeit ist gesunken, wenn auch großenteils als Folge von Sondereinflüssen im Zusammenhang mit der Arbeitsmarktpolitik.
Die Institute erwarten, dass sich der Aufschwung in diesem Jahr spürbar verstärkt. Die Exporte werden abermals kräftig ausgeweitet, da die Weltwirtschaft weiterhin sehr zügig expandiert. Überdies gewinnt nun auch die Inlandsnachfrage an Fahrt. Die Investitionen legen verstärkt zu; dazu trägt auch bei, dass die Zinsen immer noch niedrig sind. Ferner stützen finanzpolitische Maßnahmen, insbesondere die verbesserten Abschreibungsbedingungen, die Investitionstätigkeit. Die privaten Haushalte dürften ihre Ausgaben wieder etwas erhöhen, zumal sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt aufhellt. Im späteren Verlauf dieses Jahres werden zudem zusätzliche Käufe vor allem von Gebrauchsgütern getätigt, um die im kommenden Jahr höhere Mehrwertsteuer zu vermeiden. Die Institute rechnen mit einem Vorzieheffekt in Höhe von etwa 0,2 % in Relation zum Bruttoinlandsprodukt. Im Jahresdurchschnitt 2006 wird die gesamtwirtschaftliche Produktion voraussichtlich um 1,8 % zunehmen. Der Anstieg der Verbraucherpreise dürfte sich auf 1,6 % zurückbilden; dabei ist unterstellt, dass es aus dem Ausland keine neuen Teuerungsimpulse gibt.
Ausblick auf das kommende Jahr
Im kommenden Jahr wird die Konjunktur spürbar an Fahrt verlieren, da wichtige Impulse schwächer werden und Belastungen hinzukommen. So wird die Weltkonjunktur voraussichtlich etwas langsamer expandieren. Die Geldpolitik wirkt weniger anregend, weil die EZB die Zinsen in diesem Jahr weiter leicht anheben wird. Die Inlandsnachfrage wird vor allem durch den Schwenk zu einer deutlich restriktiven Finanzpolitik gedämpft. Die Mehrwertsteuer und andere Steuern sollen spürbar angehoben werden, und dieser negative Impuls wird durch die Senkung der Beiträge zur Sozialversicherung nicht ausgeglichen. Betrachtet man das gesamte Maßnahmenpaket, so wird das reale Bruttoinlandsprodukt um etwa einen halben Prozentpunkt geringer steigen, als es sonst der Fall wäre. 2007 wird es lediglich um 1,2 % zunehmen. Die Inflationsrate wird sich auf 2,5 % erhöhen.
Allerdings gibt es Risiken. So würde ein erneuter Preisschub beim Erdöl, ausgelöst durch eine befürchtete Angebotsverknappung, die Konjunktur dämpfen. Auch bestehen Risiken im Inland. Sollten die Unternehmer und Konsumenten weitere Abgabenerhöhungen befürchten, könnten sich ihre Erwartungen deutlich verschlechtern, und die Konjunktur würde sich stärker eintrüben als prognostiziert. Es besteht aber auch die Chance, dass der Produktionsanstieg höher ausfällt als hier vorausgesagt. Dafür könnte auch der Verlauf früherer Konjunkturzyklen sprechen. So nahm in der Vergangenheit die gesamtwirtschaftliche Kapazitätsauslastung häufig über einige Jahre hinweg zu, wenn ein Aufschwungsprozess erst einmal eingesetzt hatte.
Obwohl die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr mit dem kräftigsten Anstieg des realen Bruttoinlandsprodukts seit dem Jahr 2000 rechnen kann, haben sich die fundamentalen Bedingungen wenig geändert. Das Kernproblem der Wachstumsschwäche bleibt. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt wird sich zwar konjunkturell bessern, ein nennenswerter Rückgang der strukturell hohen Arbeitslosigkeit ist aber nicht zu erwarten. Daneben bestehen die Probleme in den Sozialversicherungen fort, und die Lage der öffentlichen Haushalte ist nach wie vor angespannt. Der Handlungsbedarf für die Wirtschaftspolitik hat sich somit nicht verringert.
Was ist gut für die deutsche Wirtschaft?
Vorrang in der Wirtschaftspolitik sollten solche Reformen haben, die das Wachstumspotential der deutschen Wirtschaft anheben und für mehr Beschäftigungsdynamik sorgen. Die Bundesregierung hat einige Maßnahmen beschlossen, die durchaus in die richtige Richtung gehen. Höhere öffentliche Investitionen und mehr Ausgaben für Forschung und Entwicklung wirken sich positiv auf das mittelfristige Wachstum aus. Werden diese Pläne umgesetzt, dürfte dies neben der sich abzeichnenden Besserung der kommunalen Haushaltslage dazu beitragen, dass der jahrelange Abwärtstrend der öffentlichen Investitionen umgekehrt wird. Ferner wurde mit der Eigenheimzulage eine Steuervergünstigung abgeschafft, was den Staat immerhin mittelfristig um rund 6 Mrd. Euro pro Jahr entlastet. Gleichzeitig wurden allerdings Steuervergünstigungen ausgeweitet.
Die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte hat für die Bundesregierung zu Recht hohe Priorität. Allerdings soll die Abnahme des Defizits nicht generell über geringere Ausgaben, sondern vor allem über eine höhere Steuerbelastung erreicht werden. Die Institute haben immer wieder dafür plädiert, die Haushaltskonsolidierung über die Ausgabenseite vorzunehmen. Höhere Steuern sind der falsche Weg, denn sie schaden aller Erfahrung nach dem Wachstum und der Beschäftigung. Vor diesem Hintergrund sollte die Bundesregierung die geplante Abgabenerhöhung überdenken. Wenn jedoch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer beschlossene Sache ist, sollte zumindest die Abgabenbelastung insgesamt nicht erhöht werden. So könnten im nächsten Jahr die Sozialbeiträge in dem Maße gesenkt werden, wie die Mehrwertsteuer erhöht wird. Die Institute schlagen jedoch einen anderen Weg vor: Die Regierung sollte die Mehrwertsteuer in zwei Stufen erhöhen: Im kommenden Jahr um 2 Prozentpunkte, im Jahr 2008 um einen weiteren Prozentpunkt. Dieser sollte dazu verwendet werden, einen Beitrag zur Finanzierung der für 2008 geplanten Unternehmensteuerreform zu leisten, die mit einer Nettoentlastung der Unternehmen verbunden sein sollte. Käme es mit Blick auf die Defizitwirkungen nur zu einer aufkommensneutralen Steuerreform, würde sich die Attraktivität Deutschlands für inländische und ausländische Investoren zwar auch verbessern, eine zusätzliche Chance für deutlich mehr Wachstum und Beschäftigung wäre aber vergeben. Gleichzeitig sollte der Subventionsabbau forciert werden. Die Institute haben wiederholt dafür plädiert, die Koch-Steinbrück- Liste als Basis zu nehmen. Die dort genannten Finanzhilfen und Steuervergünstigungen sollten in einem Zeitraum von fünf Jahren abgeschafft werden. Große Einsparmöglichkeiten gibt es zudem auf der Ausgabenseite, insbesondere im Bereich der Arbeitsmarktpolitik.
Die Lohnpolitik hat in den vergangenen Jahren einen moderaten Kurs verfolgt und so dazu beigetragen, dass im Zuge des jetzigen Aufschwungs auch die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zunehmen wird. Im Interesse einer nachhaltigen Besserung auf dem Arbeitsmarkt sollte dieser Kurs fortgesetzt werden. Mit Blick auf 2007 ist zudem wichtig, dass die Tarifpolitik den durch die Mehrwertsteuererhöhung ausgelösten Schub bei den Verbraucherpreisen nicht zur Grundlage für Tarifforderungen macht.
Die EZB hat gegen Ende des vergangenen Jahres die Zinswende eingeleitet und damit ihren Expansionskurs etwas abgeschwächt. Mittelfristig wird die EZB den Leitzins, ähnlich wie die amerikanische Notenbank, auf den „neutralen Zins“ anheben. Auf Basis theoretischer Überlegungen und eigener Schätzungen veranschlagen die Institute diesen im Euroraum auf 3 ½ bis 4 %. Dieses Zinsniveau wird die EZB im Prognosezeitraum voraussichtlich nicht anstreben. Die Institute erwarten vielmehr, dass die EZB die Zinsen nur moderat anhebt, so dass der maßgebliche Leitzins im Jahr 2007 bei 3 % liegt.
Abweichende Einschätzung des ifo Instituts für die Wirtschaftsentwicklung im Jahr 2007
Das ifo Institut schätzt die konjunkturelle Entwicklung im Jahr 2007 etwas optimistischer ein als die Mehrheit der Institute. Diese Einschätzung stützt sich zu einem großen Teil auf die endogene Konjunkturdynamik der deutschen Wirtschaft. Nach einem „klassischen“ Abschwung in den ersten Jahren dieses Jahrzehnts, der von einem Rückgang der Trendwachstumsrate begleitet war, wurde sowohl bei der gesamtwirtschaftlichen Produktion als auch bei den Ausrüstungsinvestitionen im Laufe des Jahres 2004 der untere Wendepunkt erreicht. Seitdem befindet sich die deutsche Wirtschaft in einem konjunkturellen Aufschwung, der sich zu Beginn dieses Jahres weiter verstärkt hat. Nach Analysen des ifo Instituts (vgl. H. Bandholz, G. Flaig und J. Mayr: Wachstum und Konjunktur in OECD-Ländern: Eine langfristige Perspektive. In: ifo Schnelldienst, Jg. 58, Nr. 4, 2005.) hält ein solcher Aufschwung in der Regel über etwa vier Jahre an. Deshalb dürften die endogenen Auftriebskräfte, die von einer weiterhin hohen Exportdynamik begleitet werden, im Jahre 2007 kräftig genug sein, dass die dämpfenden Effekte der geplanten fiskalpolitischen Maßnahmen nicht so stark durchschlagen wie von der Mehrheit der Institute angenommen. Die Investitionsdynamik bei den Ausrüstungen und im Wirtschaftsbau wird sich im nächsten Jahr nicht abschwächen. Auch das Arbeitsvolumen wird leicht steigen. Damit werden sowohl die Arbeits- als auch die Gewinneinkommen stärker expandieren als von der Mehrheit der Institute prognostiziert. Außerdem dürfte der negative Effekt der Mehrwertsteuererhöhung auf den Konsum nicht so groß sein wie allgemein vermutet. Aufgrund der hohen staatlichen Defizite wurde eine Steuererhöhung von vielen bereits seit längerem erwartet und hat zur Konsumschwäche und dem Anstieg der Sparquote in den vergangenen Jahren beigetragen. Durch die Steuererhöhung selbst sinken deshalb das permanente Einkommen und der Konsum weniger als das gemessene laufende verfügbare Einkommen. Trotz der Mehrwertsteuererhöhung dürfte aus all diesen Gründen der private Konsum im Jahre 2007 sogar leicht zulegen. Alles in allem erwartet das ifo Institut, dass das reale Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2007 mit 1,7 % um einen halben Prozentpunkt stärker steigen wird als von der Mehrheit der Institute prognostiziert.
Quelle: ifo